Die Weise Venetia kennt das Leben in London nur aus Büchern - mit ihren exquistien Festen, rauschenden Bällen und galanten Kavalerien. Sie kümmert sich sowohl um ihren kranken Bruder Aubrey sowie um das Familienanwesen in Yorkshire. Eines Tages kommt überraschend der berüchtigte Frauenheld Lord Jasper Damerel zu Besuch. Doch hinter allem entdeckt Venetia das Jasper ein gütiges Herz und einen wachen Verstand besitzt. Doch ihre Liebe hat keine Zukunft. Jasper wendet sich von ihr ab, da er Angst hat Venetias Ruf durch eine Heirat für immer zu ruinieren. So beschließt Venetia nach London zu reisen um ihre Unschuld zu verlieren.
Leseprobe des 1.Kapitels zum Buch:
"Heute Nacht ist ein Fuchs unter die Hennen geraten und hat eine unserer
besten Legerinnen entführt", bemerkte Miss Lanyon. "Noch dazu eine
Urgroßmutter! Er sollte sich wirklich schämen!" Da sie keine Antwort
bekam, fuhr sie mit veränderter Stimme fort: "Ja, wirklich! Das ist zu
schlimm. Was sollen wir jetzt tun?"
Ihr Gefährte wurde aufmerksam, hob die Augen von dem Buch, das offen neben ihm auf dem Tisch lag, und schaute sie, etwas geistesabwesend, fragend an, "Was soll das? Hast du etwas zu mir gesagt, Venetia?"
"Ja, Liebling", antwortete seine Schwester heiter, "aber es war ganz und gar unwichtig, und ich habe auf alle Fälle gleich für dich geantwortet. Du würdest wirklich staunen, wenn du wüsstest, was für interessante Gespräche ich mit mir führe und wie ich sie genieße."
"Ich habe gelesen."
"Stimmt – und deinen Kaffee kalt werden lassen, abgesehen davon, dass du das Butterbrot nicht fertiggegessen hast. So iss es doch auf! Ich glaube wirklich, ich sollte dir nicht erlauben, bei Tisch zu lesen."
"Och, ohnehin nur am Frühstückstisch!", sagte er verächtlich. "Probier's, ob du mich davon abhalten kannst!"
"Natürlich kann ich das nicht. Was ist es eigentlich?", gab sie zurück und schaute den Band an. "Ach, Griechisch! Zweifellos irgendeine erbauliche Geschichte."
"Die Medea", sagte er zurückhaltend. "In der Ausgabe von Porson, die mir Mr. Appersett geliehen hat."
"Und ob ich die kenne! Sie war doch dieses bezaubernde Geschöpf, das ihren Bruder zerschnippelt und die Stücke ihrem Papa vor die Füße geworfen hat, nicht? Sicher eine absolut liebenswürdige Person, wenn man sie erst näher kennt."
Er zuckte ungeduldig die Achsel und antwortete wegwerfend: "Das verstehst du nicht, und es ist pure Zeitverschwendung, dir das zu erklären."
Sie zwinkerte ihm zu. "Aber ich versichere dir, ich verstehe sie! Ja, bin ganz auf ihrer Seite, abgesehen davon, dass ich mir wünsche, ich besäße ihre Entschlossenheit! Obwohl ich glaube, ich hätte deine Überreste fein säuberlich im Garten vergraben, mein Lieber!"
Diese ausfallende Bemerkung entlockte ihm ein Grinsen, aber er sagte bloß, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte, ein solcher Befehl an sie wäre bestimmt die einzige Aufmerksamkeit gewesen, die ihre Eltern der Sache gewidmet hätten.
Gegen seine Gewohnheiten abgehärtet, versuchte es seine Schwester nicht weiter, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Das Butterbrot – alles, was er an diesem Morgen zu essen gewillt war – lag zur Hälfte aufgegessen auf seinem Teller, aber ihn weiter zu ermahnen, wäre Zeitverschwendung gewesen, und hätte sie es gewagt, sich zu erkundigen, wie er sich heute Morgen fühle, hätte sie ihn doch nur aufgebracht.
Er war ein magerer Junge, ziemlich klein für sein Alter, keineswegs unhübsch, aber mit einem Gesicht, das über seine Jahre hinaus scharf und von Linien durchzogen war. Einem Fremden wäre es schwergefallen, sein Alter zu schätzen, da die Unreife seines Körpers in seltsamem Gegensatz zu seinem Gesicht und seinem Benehmen stand. Tatsächlich war er erst vor Kurzem siebzehn geworden, aber körperliches Leiden hatte die Linien in sein Gesicht gegraben, und der Umgang ausschließlich mit Menschen, die älter waren als er, gepaart mit einem Intellekt, der zu Gelehrsamkeit neigte und sehr ausgeprägt war, hatte ihn frühreif gemacht. Eine Erkrankung des Hüftgelenks hatte ihn von Eton ferngehalten, wo sein Bruder Conway, um sechs Jahre älter als er, erzogen worden war, und das – oder, wie seine Schwester manchmal dachte, die verschiedenen Behandlungen seiner Krankheit, die er hatte durchmachen müssen – hatte dazu geführt, dass eines seiner Beine kürzer war. Er konnte nur mit einem sehr deutlich merkbaren und hässlichen Hinken gehen, und obwohl die Krankheit angeblich zum Stillstand gebracht worden war, schmerzte ihn das Gelenk bei ungünstigem Wetter oder wenn er sich überanstrengt hatte, immer noch. Sporte, für die sich sein Bruder begeisterte, waren ihm verwehrt, aber er war ein tapferer Reiter und ein recht guter Schütze, und nur er wusste – und Venetia erriet es –, wie bitterlich er sein Leiden hasste.
Eine Knabenzeit erzwungener physischer Unbeweglichkeit hatte in ihm die angeborene Neigung zu Gelehrsamkeit verstärkt. Als er vierzehn war, hatte er seinen Erzieher, wenn nicht an Wissen, so doch an Erfassen übertroffen, und der würdige Mann erkannte, dass der Junge einen Pauker höheren Wissens bedurfte, als er es zu liefern imstande war. Zum Glück war ein Mann, der darüber verfügte, vorhanden. Der Pastor war ein bedeutender Gelehrter und hatte seit langem mit einer Art sehnsüchtigem Entzücken Aubrey Lanyons Fortschritte verfolgt. Er bot sich an, den Jungen für Cambridge vorzubereiten, Sir Francis Lanyon, erleichtert, dass es ihm erspart blieb, einen neuen Erzieher in seinen Haushalt aufnehmen zu müssen, stimmte dem Arrangement zu, und Aubrey, damals bereits imstande, sich auf ein Pferd zu setzen, verbrachte daraufhin den größten Teil des Tages im Pfarrhaus, brütete in dem halbdunklen Bücherzimmer des Reverend Julius Appersett über gelehrten Texten, sog eifrig das umfassende Wissen seines sanften Präzeptors in sich ein und erfüllte diesen mit einem sich ständig steigernden Glauben an Aubreys Fähigkeit, dereinst zu brillieren. Aubrey war schon im Trinity College immatrikuliert, wo er im kommenden Jahr zu Michaeli aufgenommen werden würde. Und Mr. Appersett setzte durchaus keinen Zweifel darein, dass Aubrey, so jung er dann noch immer sein würde, sich sehr bald in den Rang eines Scholaren erhoben sähe.
Weder seine Schwester noch sein älterer Bruder hegten in diesem Punkt die geringsten Zweifel. Venetia wusste, dass er einen hohen Verstand besaß, und Conway, selbst ein prächtig robuster junger Sportler, für den schon das Schreiben eines Briefes eine unerträgliche Mühe bedeutete, betrachtete den Bruder mit ebenso großer Ehrfurcht wie mit Mitleid. Scholar werden zu wollen, erschien Conway ein seltsamer Ehrgeiz, aber er hoffte aufrichtig, dass es Aubrey gelingen würde, denn was sonst – sagte er einmal zu Venetia – konnte der arme kleine Bursche tun, als sich an seine Bücher halten?
Was Venetia betraf, so meinte sie, dass er sich viel zu eng an diese hielt und in einem erschreckend frühen Alter alle Anzeichen zeigte, ein ebenso eigensinniger Eigenbrötler zu werden, wie es ihr Vater gewesen war. Derzeit sollte er gerade Ferien genießen, denn Mr. Appersett war in Bath und erholte sich von einer schweren Krankheit, indes ein Vetter, mit dem er zum Glück hatte tauschen können, seine Pflichten hier erfüllte. Jeder andere Junge hätte seine Bücher in eine Stellage gestopft und wäre mit seiner Angelrute ausgezogen. Aubrey brachte selbst an den Frühstückstisch Bücher mit und ließ seinen Kaffee kalt werden, während er dasaß, seine hohe, zarte Stirn aufgestützt, die Augen auf die Druckseite gerichtet, das Gehirn derart darauf konzentriert, was er gerade las, dass man seinen Namen hätte dutzendmal aussprechen können und trotzdem keine Antwort erhalten hätte. Es fiel ihm nicht auf, dass er durch eine derartige Konzentration zu einem schlechten Gesellschafter wurde. Erzwungenerweise fiel es Venetia auf, aber da sie seit langem erkannt hatte, dass er genauso egoistisch war wie sein Vater oder sein Bruder, konnte sie seine seltsame Art völlig gleichmütig hinnehmen und ihn auch weiterhin gern haben, ohne schmerzlich enttäuscht zu sein.
Sie war um neun Jahre älter als er, das älteste der drei überlebenden Kinder eines Großgrundbesitzers im Yorkshire mit einer langen Ahnenreihe, einem behaglich großen Vermögen und exzentrischen Gewohnheiten. Der Verlust seiner Frau, bevor Aubrey noch lange Hosen trug, war die Ursache gewesen, dass sich Sir Francis in den dicken Mauern seines Herrenhauses, etliche fünfundzwanzig Meilen von York entfernt, vergrub, voll erhabener Gleichgültigkeit dem Wohlergehen seiner Sprösslinge gegenüber, und der Gesellschaft seiner Kameraden abschwor. Venetia konnte nur annehmen, dass sein Wesen schon immer zum Einsiedlertum neigte, denn sie konnte unmöglich glauben, dass ein derart ausgefallenes Verhalten aus einem gebrochenen Herzen kam. Sir Francis war ein Mann von steifem Stolz, aber nie ein empfindsamer Mensch gewesen, und dass seine Ehe ungetrübte Seligkeit gewesen wäre, war eine liebenswürdige Fiktion, die seine klaräugige Tochter einfach nicht glaubte. Ihre Erinnerungen an die Mutter waren vage, aber sie enthielten den Nachhall erbitterten Zanks, zugepfefferter Türen und peinlich hysterischer Anfälle. Sie konnte sich erinnern, dass sie in das duftende Schlafzimmer ihrer Mutter kommen durfte, um zuzuschauen, wie diese für einen Ball im Howard-Schloss angekleidet wurde, sie konnte sich an ein wunderschönes, aber unzufriedenes Gesicht erinnern, an ein Gewirr teurer Kleider, an eine französische Kammerzofe. Aber sie konnte nicht eine einzige Erinnerung an mütterliche Besorgnis oder Liebe heraufbeschwören. Sicher war, dass Lady Lanyon die Liebe ihres Gatten zum Landleben nicht geteilt hatte. Jedes Frühjahr hatte das schlecht zusammenpassende Paar in London gesehen, der Frühsommer brachte sie nach Brighton. Wenn sie nach Undershaw zurückkehrten, dauerte es nicht lange, bis Ihre Gnaden Trübsal blies. Und wenn sich der Winter über Yorkshire senkte, konnte sie unmöglich das strenge Klima ertragen und war mit ihrem widerstrebenden Gatten auf und davon, auf einer Besuchstour bei ihren Freunden. Kein Mensch hätte sich vorstellen können, dass Sir Francis eine solche Schmetterlingsexistenz passte, dennoch war er ein geschlagener Mann, als eine plötzliche Krankheit seine Frau dahinraffte, nicht imstande, den Anblick ihres Porträts an der Wand zu ertragen, noch ihren Namen erwähnt zu hören.
Seine Kinder wuchsen in der Wüste auf, die er geschaffen hatte, nur Conway, der nach Eton geschickt wurde und von dort in ein Infanterieregiment eintrat, entfloh in eine größere Welt. Weder Venetia noch Aubrey waren weiter als von Undershaw nach Scarborough gekommen, und ihre Bekanntschaft beschränkte sich auf die paar Familien, die in Reichweite des Herrenhauses lebten. Keinem von beiden tat das leid, Aubrey nicht, weil er davor zurückschrak, unter Fremde zu gehen, Venetia, weil es ihr einfach nicht lag, es zu bedauern. Sie war nur ein einziges Mal untröstlich gewesen, und zwar, als sie siebzehn wurde und Sir Francis es ablehnte, sie zu seiner Schwester nach London fahren zu lassen, damit Venetia bei Hof vorgestellt und in die Gesellschaft eingeführt werde. Es schien hart, und sie hatte einige Tränchen vergossen. Aber nur ein bisschen Überlegung hatte genügt, sie zu überzeugen, dass der Plan wirklich ziemlich undurchführbar war. Sie konnte Aubrey, damals ein kränklicher Achtjähriger, nicht allein der Pflege der Nurse überlassen: die Ergebenheit dieses vortrefflichen Geschöpfes hätte ihn ins Irrenhaus gebracht. So hatte sie die Tränen getrocknet und sich mit der Situation abgefunden. Papa war schließlich doch nicht so unvernünftig. Wenn er auch einer Londoner Saison nicht zustimmen wollte, so erhob er doch keinen Einwand dagegen, dass sie die Unterhaltungen in York oder sogar in Harrogate mitmachte, wann immer Lady Denny oder Mrs. Yardley sie einlud, mitzufahren, was sie ziemlich häufig taten, die eine aus Güte, die andere unter dem Druck ihres entschlossenen Sohnes. Auch war Papa durchaus nicht kleinlich: er kümmerte sich nie um ihre Ausgaben für den Haushalt, gab ihr eine recht schöne Apanage und hinterließ ihr, einigermaßen zu ihrer Überraschung, nach seinem Tod ein recht respektables Einkommen.
Dieses Ereignis hatte sich vor drei Jahren abgespielt, einen Monat nach dem glorreichen Sieg bei Waterloo, und ganz unerwartet, durch einen tödlichen Schlaganfall. Es war für seine Kinder zwar ein Schock, aber kein Kummer gewesen. "In Wirklichkeit", sagte Venetia zum Entsetzen der gütigen Lady Denny, "kommen wir viel besser ohne ihn aus."
Ihr Gefährte wurde aufmerksam, hob die Augen von dem Buch, das offen neben ihm auf dem Tisch lag, und schaute sie, etwas geistesabwesend, fragend an, "Was soll das? Hast du etwas zu mir gesagt, Venetia?"
"Ja, Liebling", antwortete seine Schwester heiter, "aber es war ganz und gar unwichtig, und ich habe auf alle Fälle gleich für dich geantwortet. Du würdest wirklich staunen, wenn du wüsstest, was für interessante Gespräche ich mit mir führe und wie ich sie genieße."
"Ich habe gelesen."
"Stimmt – und deinen Kaffee kalt werden lassen, abgesehen davon, dass du das Butterbrot nicht fertiggegessen hast. So iss es doch auf! Ich glaube wirklich, ich sollte dir nicht erlauben, bei Tisch zu lesen."
"Och, ohnehin nur am Frühstückstisch!", sagte er verächtlich. "Probier's, ob du mich davon abhalten kannst!"
"Natürlich kann ich das nicht. Was ist es eigentlich?", gab sie zurück und schaute den Band an. "Ach, Griechisch! Zweifellos irgendeine erbauliche Geschichte."
"Die Medea", sagte er zurückhaltend. "In der Ausgabe von Porson, die mir Mr. Appersett geliehen hat."
"Und ob ich die kenne! Sie war doch dieses bezaubernde Geschöpf, das ihren Bruder zerschnippelt und die Stücke ihrem Papa vor die Füße geworfen hat, nicht? Sicher eine absolut liebenswürdige Person, wenn man sie erst näher kennt."
Er zuckte ungeduldig die Achsel und antwortete wegwerfend: "Das verstehst du nicht, und es ist pure Zeitverschwendung, dir das zu erklären."
Sie zwinkerte ihm zu. "Aber ich versichere dir, ich verstehe sie! Ja, bin ganz auf ihrer Seite, abgesehen davon, dass ich mir wünsche, ich besäße ihre Entschlossenheit! Obwohl ich glaube, ich hätte deine Überreste fein säuberlich im Garten vergraben, mein Lieber!"
Diese ausfallende Bemerkung entlockte ihm ein Grinsen, aber er sagte bloß, bevor er sich wieder seinem Buch zuwandte, ein solcher Befehl an sie wäre bestimmt die einzige Aufmerksamkeit gewesen, die ihre Eltern der Sache gewidmet hätten.
Gegen seine Gewohnheiten abgehärtet, versuchte es seine Schwester nicht weiter, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Das Butterbrot – alles, was er an diesem Morgen zu essen gewillt war – lag zur Hälfte aufgegessen auf seinem Teller, aber ihn weiter zu ermahnen, wäre Zeitverschwendung gewesen, und hätte sie es gewagt, sich zu erkundigen, wie er sich heute Morgen fühle, hätte sie ihn doch nur aufgebracht.
Er war ein magerer Junge, ziemlich klein für sein Alter, keineswegs unhübsch, aber mit einem Gesicht, das über seine Jahre hinaus scharf und von Linien durchzogen war. Einem Fremden wäre es schwergefallen, sein Alter zu schätzen, da die Unreife seines Körpers in seltsamem Gegensatz zu seinem Gesicht und seinem Benehmen stand. Tatsächlich war er erst vor Kurzem siebzehn geworden, aber körperliches Leiden hatte die Linien in sein Gesicht gegraben, und der Umgang ausschließlich mit Menschen, die älter waren als er, gepaart mit einem Intellekt, der zu Gelehrsamkeit neigte und sehr ausgeprägt war, hatte ihn frühreif gemacht. Eine Erkrankung des Hüftgelenks hatte ihn von Eton ferngehalten, wo sein Bruder Conway, um sechs Jahre älter als er, erzogen worden war, und das – oder, wie seine Schwester manchmal dachte, die verschiedenen Behandlungen seiner Krankheit, die er hatte durchmachen müssen – hatte dazu geführt, dass eines seiner Beine kürzer war. Er konnte nur mit einem sehr deutlich merkbaren und hässlichen Hinken gehen, und obwohl die Krankheit angeblich zum Stillstand gebracht worden war, schmerzte ihn das Gelenk bei ungünstigem Wetter oder wenn er sich überanstrengt hatte, immer noch. Sporte, für die sich sein Bruder begeisterte, waren ihm verwehrt, aber er war ein tapferer Reiter und ein recht guter Schütze, und nur er wusste – und Venetia erriet es –, wie bitterlich er sein Leiden hasste.
Eine Knabenzeit erzwungener physischer Unbeweglichkeit hatte in ihm die angeborene Neigung zu Gelehrsamkeit verstärkt. Als er vierzehn war, hatte er seinen Erzieher, wenn nicht an Wissen, so doch an Erfassen übertroffen, und der würdige Mann erkannte, dass der Junge einen Pauker höheren Wissens bedurfte, als er es zu liefern imstande war. Zum Glück war ein Mann, der darüber verfügte, vorhanden. Der Pastor war ein bedeutender Gelehrter und hatte seit langem mit einer Art sehnsüchtigem Entzücken Aubrey Lanyons Fortschritte verfolgt. Er bot sich an, den Jungen für Cambridge vorzubereiten, Sir Francis Lanyon, erleichtert, dass es ihm erspart blieb, einen neuen Erzieher in seinen Haushalt aufnehmen zu müssen, stimmte dem Arrangement zu, und Aubrey, damals bereits imstande, sich auf ein Pferd zu setzen, verbrachte daraufhin den größten Teil des Tages im Pfarrhaus, brütete in dem halbdunklen Bücherzimmer des Reverend Julius Appersett über gelehrten Texten, sog eifrig das umfassende Wissen seines sanften Präzeptors in sich ein und erfüllte diesen mit einem sich ständig steigernden Glauben an Aubreys Fähigkeit, dereinst zu brillieren. Aubrey war schon im Trinity College immatrikuliert, wo er im kommenden Jahr zu Michaeli aufgenommen werden würde. Und Mr. Appersett setzte durchaus keinen Zweifel darein, dass Aubrey, so jung er dann noch immer sein würde, sich sehr bald in den Rang eines Scholaren erhoben sähe.
Weder seine Schwester noch sein älterer Bruder hegten in diesem Punkt die geringsten Zweifel. Venetia wusste, dass er einen hohen Verstand besaß, und Conway, selbst ein prächtig robuster junger Sportler, für den schon das Schreiben eines Briefes eine unerträgliche Mühe bedeutete, betrachtete den Bruder mit ebenso großer Ehrfurcht wie mit Mitleid. Scholar werden zu wollen, erschien Conway ein seltsamer Ehrgeiz, aber er hoffte aufrichtig, dass es Aubrey gelingen würde, denn was sonst – sagte er einmal zu Venetia – konnte der arme kleine Bursche tun, als sich an seine Bücher halten?
Was Venetia betraf, so meinte sie, dass er sich viel zu eng an diese hielt und in einem erschreckend frühen Alter alle Anzeichen zeigte, ein ebenso eigensinniger Eigenbrötler zu werden, wie es ihr Vater gewesen war. Derzeit sollte er gerade Ferien genießen, denn Mr. Appersett war in Bath und erholte sich von einer schweren Krankheit, indes ein Vetter, mit dem er zum Glück hatte tauschen können, seine Pflichten hier erfüllte. Jeder andere Junge hätte seine Bücher in eine Stellage gestopft und wäre mit seiner Angelrute ausgezogen. Aubrey brachte selbst an den Frühstückstisch Bücher mit und ließ seinen Kaffee kalt werden, während er dasaß, seine hohe, zarte Stirn aufgestützt, die Augen auf die Druckseite gerichtet, das Gehirn derart darauf konzentriert, was er gerade las, dass man seinen Namen hätte dutzendmal aussprechen können und trotzdem keine Antwort erhalten hätte. Es fiel ihm nicht auf, dass er durch eine derartige Konzentration zu einem schlechten Gesellschafter wurde. Erzwungenerweise fiel es Venetia auf, aber da sie seit langem erkannt hatte, dass er genauso egoistisch war wie sein Vater oder sein Bruder, konnte sie seine seltsame Art völlig gleichmütig hinnehmen und ihn auch weiterhin gern haben, ohne schmerzlich enttäuscht zu sein.
Sie war um neun Jahre älter als er, das älteste der drei überlebenden Kinder eines Großgrundbesitzers im Yorkshire mit einer langen Ahnenreihe, einem behaglich großen Vermögen und exzentrischen Gewohnheiten. Der Verlust seiner Frau, bevor Aubrey noch lange Hosen trug, war die Ursache gewesen, dass sich Sir Francis in den dicken Mauern seines Herrenhauses, etliche fünfundzwanzig Meilen von York entfernt, vergrub, voll erhabener Gleichgültigkeit dem Wohlergehen seiner Sprösslinge gegenüber, und der Gesellschaft seiner Kameraden abschwor. Venetia konnte nur annehmen, dass sein Wesen schon immer zum Einsiedlertum neigte, denn sie konnte unmöglich glauben, dass ein derart ausgefallenes Verhalten aus einem gebrochenen Herzen kam. Sir Francis war ein Mann von steifem Stolz, aber nie ein empfindsamer Mensch gewesen, und dass seine Ehe ungetrübte Seligkeit gewesen wäre, war eine liebenswürdige Fiktion, die seine klaräugige Tochter einfach nicht glaubte. Ihre Erinnerungen an die Mutter waren vage, aber sie enthielten den Nachhall erbitterten Zanks, zugepfefferter Türen und peinlich hysterischer Anfälle. Sie konnte sich erinnern, dass sie in das duftende Schlafzimmer ihrer Mutter kommen durfte, um zuzuschauen, wie diese für einen Ball im Howard-Schloss angekleidet wurde, sie konnte sich an ein wunderschönes, aber unzufriedenes Gesicht erinnern, an ein Gewirr teurer Kleider, an eine französische Kammerzofe. Aber sie konnte nicht eine einzige Erinnerung an mütterliche Besorgnis oder Liebe heraufbeschwören. Sicher war, dass Lady Lanyon die Liebe ihres Gatten zum Landleben nicht geteilt hatte. Jedes Frühjahr hatte das schlecht zusammenpassende Paar in London gesehen, der Frühsommer brachte sie nach Brighton. Wenn sie nach Undershaw zurückkehrten, dauerte es nicht lange, bis Ihre Gnaden Trübsal blies. Und wenn sich der Winter über Yorkshire senkte, konnte sie unmöglich das strenge Klima ertragen und war mit ihrem widerstrebenden Gatten auf und davon, auf einer Besuchstour bei ihren Freunden. Kein Mensch hätte sich vorstellen können, dass Sir Francis eine solche Schmetterlingsexistenz passte, dennoch war er ein geschlagener Mann, als eine plötzliche Krankheit seine Frau dahinraffte, nicht imstande, den Anblick ihres Porträts an der Wand zu ertragen, noch ihren Namen erwähnt zu hören.
Seine Kinder wuchsen in der Wüste auf, die er geschaffen hatte, nur Conway, der nach Eton geschickt wurde und von dort in ein Infanterieregiment eintrat, entfloh in eine größere Welt. Weder Venetia noch Aubrey waren weiter als von Undershaw nach Scarborough gekommen, und ihre Bekanntschaft beschränkte sich auf die paar Familien, die in Reichweite des Herrenhauses lebten. Keinem von beiden tat das leid, Aubrey nicht, weil er davor zurückschrak, unter Fremde zu gehen, Venetia, weil es ihr einfach nicht lag, es zu bedauern. Sie war nur ein einziges Mal untröstlich gewesen, und zwar, als sie siebzehn wurde und Sir Francis es ablehnte, sie zu seiner Schwester nach London fahren zu lassen, damit Venetia bei Hof vorgestellt und in die Gesellschaft eingeführt werde. Es schien hart, und sie hatte einige Tränchen vergossen. Aber nur ein bisschen Überlegung hatte genügt, sie zu überzeugen, dass der Plan wirklich ziemlich undurchführbar war. Sie konnte Aubrey, damals ein kränklicher Achtjähriger, nicht allein der Pflege der Nurse überlassen: die Ergebenheit dieses vortrefflichen Geschöpfes hätte ihn ins Irrenhaus gebracht. So hatte sie die Tränen getrocknet und sich mit der Situation abgefunden. Papa war schließlich doch nicht so unvernünftig. Wenn er auch einer Londoner Saison nicht zustimmen wollte, so erhob er doch keinen Einwand dagegen, dass sie die Unterhaltungen in York oder sogar in Harrogate mitmachte, wann immer Lady Denny oder Mrs. Yardley sie einlud, mitzufahren, was sie ziemlich häufig taten, die eine aus Güte, die andere unter dem Druck ihres entschlossenen Sohnes. Auch war Papa durchaus nicht kleinlich: er kümmerte sich nie um ihre Ausgaben für den Haushalt, gab ihr eine recht schöne Apanage und hinterließ ihr, einigermaßen zu ihrer Überraschung, nach seinem Tod ein recht respektables Einkommen.
Dieses Ereignis hatte sich vor drei Jahren abgespielt, einen Monat nach dem glorreichen Sieg bei Waterloo, und ganz unerwartet, durch einen tödlichen Schlaganfall. Es war für seine Kinder zwar ein Schock, aber kein Kummer gewesen. "In Wirklichkeit", sagte Venetia zum Entsetzen der gütigen Lady Denny, "kommen wir viel besser ohne ihn aus."
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